Am 15. Mai 2020 sprachen wir mit Dagmar Woyde-Koehler – Mitbegründerin und langjährige Geschäftsführerin der EnBW-Akademie, die nach dem Unfalltod ihres Partners OUBEY etwas gewagt hatte, was es so zuvor noch nie in der Kunstwelt gegeben hatte: 2004 initiierte sie das MINDKISS Projekt und bringt seither unabhängig von den Strukturen des etablierten Kunstbetriebs das künstlerische Vermächtnis von OUBEY in eine weltweite Öffentlichkeit. Damit ermöglicht Dagmar Woyde-Koehler Menschen auf der ganzen Welt die wertfreie Begegnung mit OUBEYS Kunst. Hier geht es direkt zum Video!
Das Buch dazu wurde mit dem Red Dot Design Award, dem AIGA Design Award sowie mit dem Award of Excellence des renommierten Communication Arts Magazins ausgezeichnet.

Wie entstand MINDKISS?
Es war OUBEY selbst damals, der den Namen MINDKISS erfunden hatte. So hieß auch die erste und einzige Ausstellung des Karlsruher Künstlers, die 1992 stattfand und sehr erfolgreich war. Dennoch oder vielleicht gerade deswegen zog sich OUBEY zurück, um Abstand zum Kunstbetrieb zu suchen und sich ein Stück Freiheit zu bewahren. Zwölf Jahre später war er soweit und wollte sich und seine Kunst wieder sichtbar machen – jedoch starb er mitten in der Vorbereitungszeit. Zurück blieben seine Partnerin Dagmar und ca. 1000 verschiedene Kunstwerke, die OUBEY in der Zeit seiner Einkehr hervorgebracht hatte. Für Dagmar Woyde-Koehler war klar, dass es weitergehen musste und dass die Welt mehr über OUBEY erfahren sollte. Doch wie? Diese Frage fand fünf Jahre nach OUBEYS Unfalltod eine Antwort – in Form von MINDKISS. Gerade das Internet sollte dabei eine entscheidende Rolle spielen, da der Künstler selbst schon in den 80er-Jahren den Weg ins Digitale gesucht hatte.
Dass Dagmar Woyde-Koehler selbst nicht viel über den Umgang mit dem Internet wusste, störte sie nicht. Sie war offen für das Neue und sich sicher, dass dies der richtige Weg für OUBEYS Vermächtnis war. Der unendliche Raum des World Wide Web faszinierte sie und die Verbindung zwischen dem digitalen und analogen Raum war für sie der interessanteste Spannungsbogen bei MINDKISS. Dreh- und Angelpunkt des Projektes sollte jedoch OUBEYS Kunst sein und die war analog, abgesehen von seinen Computerarbeiten mit dem Amiga 500. Ihr erster Brückenschlag zwischen diesen beiden Welten waren die sogenannten “Encounters”.
Die Encounters – Begegnungen der besonderen Art
Die Begegnungen mit OUBEY (auf Englisch „Encounters“) bestehen aus einer Serie kurzer Videos, die dokumentieren, wie eine Vielzahl und Vielfalt an Menschen unterschiedlichstem Background mit einem Kunstwerk des früh verstorbenen Künstlers OUBEY konfrontiert werden – ohne es je zuvor gesehen zu haben. Dabei zeigt Dagmar Woyde-Koehler den von ihr ausgewählten Personen das Bild und stellt bewusst nur eine einzige Frage:
„Was fällt Ihnen ein, wenn Sie das Bild betrachten?”
Die “Encounters” – Mann/Frau begegnet Bild – werden aufgezeichnet und als Videos ins Internet gestellt. Und diese Begegnungen haben sie und OUBEYS Kunstwerke um die ganze Welt geführt.
Seitdem experimentiert Dagmar Woyde-Koehler sehr viel mit Virtual Reality (VR) und Künstlicher Intelligenz (KI). Ihre Erfahrungen sind eingeflossen in neue Erlebniswelten für OUBEYs Bilder. Dabei bleibt der Kern nach wie vor analog – OUBEYs Kunst. Aber VR und KI eröffnen nun das ”Innere” von OUBEYs Bildern. Die Betrachter:innen können eintreten in das Bild, sich darin bewegen und mit den einzelnen Elementen spielen und gestalten.
„Dies ist ein neuer – und ich finde ein faszinierender – Erlebnisraum für OUBEYs Kunst.“

Die Resonanzensammlerin
MINDKISS und ihr eigener Lernprozess im virtuellen Raum waren für Dagmar Woyde-Koehler das bisher größte Lernprojekt ihres Lebens. Für sie kann Lernen jedoch nicht in einem resonanzfreien Raum stattfinden. Es braucht vielmehr den Dialog, Diskurs und Austausch auf den unterschiedlichsten Ebenen.
„Ich gebe etwas in einen Raum hinein. Und manchmal kommt etwas zurück. Eine Meinung. Eine Kritik. Eine Assoziation oder eine Idee. Das höre ich mir an, denke darüber nach und spiele es wieder zurück. Von mir weiterverarbeitet geht es zurück in den Resonanzraum. Und das kann sich beliebig wiederholen.
Bei einem Encounter habe ich das Bild “gegeben” und mein Gegenüber seine Gedanken zu dem Bild. Dann ging das Bild mit diesen Gedanken als Video ins Internet und hat dort neue Resonanzen erzeugt. Der analoge Raum, in dem der Encounter stattfand, wurde um den digitalen Raum erweitert. Im digitalen Raum können viele mitmachen. Und es liegt an mir, worauf ich eingehe, was ich “weiterverarbeite”, zurückspiele oder sein lasse. Und wenn in diesem Resonanzraum viele mitmachen, dann wird das ganz schnell sehr komplex und entwickelt seine eigene Dynamik. Das ist sehr spannend. Diesen Raum eröffne ich jetzt mit VR und KI.“
Neben OUBEYs Kunst sind diese Resonanzen der Grundstock und der Nährboden für die Weiterentwicklung des Projektes.
Ungefiltert Kunst erleben
Bei MINDKISS bleiben die Expert:innen außen vor, denn sie würden laut Dagmar Woyde- Koehler das Projekt nur einschränken und „vorinterpretieren“. Auch OUBEY entzog sich ganz bewusst der Expertenmeinung. Der Künstler wollte keinen Filter, keine Interpretation zwischen seinem Kunstwerk und deren Betrachter:innen. OUBEY sah Kunst zudem nicht als Investitionsobjekt und entzog sich der Experten-Beurteilung von “gut und schlecht” oder “teuer und billig”. Seine Kunst sollte nicht – eingeordnet in einem vorgegebenen Rahmen – im Museum verschwinden, sondern frei sein. In diesem Sinn betreibt Dagmar Woyde-Koehler MINDKISS als offenen Resonanzraum, in dem Individuen ungefiltert Kunst erleben und erkennen und ihren eigenen Zugang zu OUBEYs Kunstwerken finden sollen. Zudem werden sie eingeladen, ihr Erleben und Erkennen zu teilen.
Für Dagmar Woyde-Koehler ist das größte Learning bei MINDKISS:
„Ich kann unglaublich viel erreichen und machen, wenn es “Mein Ding” ist, wenn es meiner inneren Lust und Überzeugung entspringt – dann kann ich auch andere dafür begeistern. Das macht mich glücklich. Und deshalb geht es mir so gut.“
Menschen verbinden – digital oder analog
Bei MINDKISS und auch beim Lernen geht es darum, Menschen zu verbinden, in Resonanz zu gehen und wertfreie Begegnungen zu ermöglichen und den Beteiligten dabei größtmögliche Freiheit zu gewähren. Wenn Lernen in solch einem Raum – ob virtuell oder analog – möglich ist, kann es die Kraft entfalten, zu verändern, zu motivieren, zu verbinden und Menschen wachsen zu lassen. Aktuell sind Begegnungen mit Fremden, die Nähe zu ihnen und das „Aufeinander-Einlassen“ nur bedingt möglich. Hinzu kommt, dass alles Fremde, jede Begegnung eine potentiell gefährliche sein könnte. Doch gerade jetzt ist es umso wichtiger, dass Menschen sich weiterhin verbinden können, sei es in der Kunst oder beim Lernen – wenn auch erstmal nur digital.
Unsere neue Interviewserie Tell me how you learn lebt ebenfalls von Begegnungen mit Menschen, die uns erzählen, wie sie lernen, was Lernen für sie persönlich bedeutet und welchen Raum es dafür braucht, zu wachsen. Hier geht es zu unserem YouTube-Kanal!